Blog

In der Krise zeigt sich Führungsfähigkeit

Potenzial, dass auch vor der Krise und ganz besonders während der Krise dazu genutzt werden könnte, Organisationsstrukturen und Mitarbeiterführung ins 21. Jahrhundert zu überführen.

Claudia Henrichs
- Claudia Henrichs sieht Potenzial in der aktuellen Corona-Krise. (Foto: Sonja Dräger)

Aus meiner Sicht sind wir dabei, die ambulante Pflege durch die Vermarktwirtschaftlichung zu Grunde zu richten. Vielfach sind Leitungskräfte keine Führungskräfte, sondern Sklaven des Soll-Ist-Vergleiches, der oft nicht die Bedürfnisse des Pflegekunden im Blick hat, sondern den Generalverdacht ausdrückt, dass Mitarbeitende auf irgendeine Art und Weise auf Kosten des Pflegedienstes Zeit schinden.

Einen großen Zeitanteil verwenden Pflegedienstleitungen darauf, Touren-und Dienstpläne zu schreiben, die kaum im System eingetragen, schon wieder Schnee von gestern sind. Krankmeldungen und Fluktuation machen dieser Arbeit oft einen Strich durch die Rechnung.

Die monatliche BWA-Besprechung wird zur Rechtfertigungsfarce, weil niemand, auch Geschäftsführer*innen nicht, engagiertes Personal schnitzen oder die Veränderungen von Pflegekunden vorhersagen kann.

Ist Verantwortungsübernahme nicht erwünscht?

Im ambulanten Pflegedienst arbeiten überwiegend teilzeitbeschäftigte Frauen, die im Privaten oft ein sehr erfolgreiches kleines Familienunternehmen führen. Mit allen Entscheidungen, die im Zusammenhang mit Kindererziehung, jetzt zusätzlich noch mit Homeschooling, Haushalt, Versorgung von Ehepartnern und vielfach auch pflegebedürftigen (Schwieger-)Eltern, anfallen.

Als Mitarbeiterin eines ambulanten Pflegedienstes geben sie oft ihre Fähigkeiten selbst zu denken und Entscheidungen zu treffen mit Antritt ihres Dienstes ab. Nicht weil sie nicht können, sondern weil diese Kompetenzen oft nicht gefragt sind.

Prof. Dr. Guido Heuel von der Katholische Hochschule NRW schreibt in seinem lesenswerten Artikel Von der Pflegenot zur Pflegekrise, “dass die meisten Pflegekräfte in ihrem Berufsalltag ein hohes Arbeitspensum, starken Termin- und Leistungsdruck … ausfallende Pausen, die fehlende Unterstützung der Vorgesetzten, einen geringen Handlungsspielraum, die Standardisierung von Pflegetätigkeit, hohe Überwachung durch Qualitätsnormen und Dokumentation erleben.”

Er führt weiter aus, dass es “eindeutig ist, dass Pflegearbeit neben dem “Hands-On Nursing” aus einem hohen interaktiven Teil besteht, der nicht beliebig eingeschränkt oder standardisiert werden kann. Die Faktoren führen dazu, dass eine individuelle Patientenversorgung vernachlässigt wird.”

Das ist eine in vielen Fällen zutreffende traurige Beschreibung des IST-Zustandes, der aus meiner Sicht nur von mutigen Führungskräften Schritt für Schritt verändert werden kann.

Wozu braucht ein Unternehmen Führungskräfte?

Pflegedienstleitungen und Geschäftsführungen mutieren oft entweder zu kontrollierenden Anweisungserteiler*innen oder Über-Müttern bzw. -Vätern, die gerne Annehmlichkeiten wie Kekse, Getränke oder Kinogutscheine spendieren.

Kein Wunder, dass sich erwachsene Mitarbeiter*innen während ihres Dienstes zu renitenten oder angepassten Kindern entwickeln.

Zu der Frage wozu es Führung in einem Unternehmen braucht und was erfolgreiche Führung ausmacht, gibt es viele Meinungen und noch mehr Literatur. Zeitgemäße Führungsmodelle sagen, dass Führung dazu da ist,

  • um gemeinsam, die Betonung liegt auf gemeinsam, mit einem Team Ziele zu erreichen.
  • die Mitarbeitenden zu befähigen, die Betonung liegt auf befähigen, ihren Anteil an der Zielerreichung zu leisten.
  • Führung braucht es, um die Richtung von Bewegung zu bestimmen und
  • in kritischen Situationen Einfluss zu nehmen.

Die Richtung von Bewegung bedeutet, allen Aktivitäten eine SINNhaftigkeit zu geben. Kommunikativ immer und immer wieder zu erzählen, wozu es den Pflegedienst gibt. Das bedeutet auch, den Fokus in erster Linie auf den Pflegekunden zu legen. Wenn es bei jeder Entscheidung darum geht, Pflegebedürftige auf dem Weg in die Zukunft darin zu unterstützen, so lange, so sicher und so selbstständig ihr Zuhause genießen zu können, dann 

  • machen die meisten Pflegekräfte dabei engagiert mit, weil genau das bei vielen der Grund war, diesen Beruf zu wählen und
  • gleichzeitig steigt auch der Grad der Inanspruchnahme von Leistungen. Weil der Fokus eben nicht mehr darauf liegt, in 3,5 Minuten eine Leistung zu verrichten.

Entscheidungen in kritischen Situationen treffen

In kritischen Situationen Einfluss nehmen bedeutet unter anderem, die Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen auch und gerade, wenn die Situation aufgrund ihrer Komplexität nicht entscheidbar ist. Niemand kann im Nachhinein sagen, ob es richtig oder falsch war

  • Kurzarbeit zu beantragen,
  • keine 37.3 Beratungsgespräche durchzuführen,
  • Leistungen abzusagen,
  • die Pflege von Menschen zu verweigern, die aus dem KHS ohne Testung entlassen wurden oder
  • Mitarbeiter*innen ohne ausreichend Schutzkleidung, Pflege durchführen zu lassen.

Diese Liste können Sie auf der Basis der Entscheidungen, die Sie in den letzten zehn Wochen getroffen haben, beliebig ergänzen.

Wir können nicht beurteilen, ob eine Entscheidung richtig gewesen ist, weil wir die Auswirkungen nicht kennen, wenn wir uns für die andere Alternative entschieden hätten. Deshalb ist die Möglichkeit des Scheiterns in jeder Entscheidung inbegriffen.

Karl Lauterbach sagte in der Talkrunde von Anne Will am 17.05.2020: “Wir hatten die Wahl zwischen A und B und konnten uns aussuchen, ob wir mit A oder B scheitern.”

Das Vertrauen der Mitarbeitenden gewinnen

Damit sich das Team auch in schwierigen Situationen mit Hand, Herz und Verstand einbringt, damit Entscheidungen, auch wenn sie nicht von allen für gut befunden werden, mitgetragen werden ist Vertrauen das Einzige, was Führungskräfte haben müssen. Das Vertrauen der Mitarbeitenden darauf, dass Entscheidungen mit dem Blick auf eine gemeinsame Zukunft getroffen werden. Vertrauen entsteht, indem Führung

  • sich verletzlich zeigt und
  • zugibt, nicht alles zu wissen, (Wie zum Beispiel Mathias Döpfner, der an seine Mitarbeitenden zu Beginn der Corona-Krise schrieb: “Seit Tagen zögere ich etwas zu schreiben. Weil ich Zweifel habe. Auch Angst, einen Fehler zu machen. Weil ich nicht sicher bin, was richtig ist. Weil ich als Asthmatiker ein sogenannter Risikopatient wäre. Und weil ich Verantwortung habe für 16.500 Mitarbeiter. Und für das, was ich mit einem Text wie diesem auslöse.”)
  • Mitarbeitenden einen Vertrauensvorschuss einräumt,
  • die innere Unabhängigkeit beweist, nicht everybodys Liebling sein zu wollen,
  • über wichtige Entscheidungen im Vorfeld informiert,
  • wenn immer es geht, vor einer Entscheidung die Stimmen des Teams einholt und
  • getroffene Entscheidungen nachvollziehbar begründet.

Prof. Heugel schreibt dazu, dass Pflege in der “aktuellen Lage der Krise und Unsicherheit eine verlässliche Führung benötigt. … Eine Führungskraft, die im Wesentlichen die Veränderungen und Nöte begreifen und verstehen muss, benötigt eine gereifte Persönlichkeit. Sie muss den Mitarbeitenden Orientierung geben und Unternehmensbelange einordnen können. Das kann nur eine (Führungs-)Person, die Führung mit gezielter Selbstreflexion gelernt hat. …  und mit Mitarbeitern in der Krise die entsprechenden Pfade eruiert um langfristig (nach der Krise) die Chance zu nutzen und über (neue) Strukturen nachzudenken!”

Neue Strukturen in der ambulanten Pflege

In vielen ambulanten Pflegediensten werden neue Strukturen aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen, die Corona mitbringt, schon ausprobiert und gelebt. Hier einige Beispiele:

  • Die Kommunikation mit den Teams findet mit digitalen Tools statt. Wenn die Kommunikation dann noch über die reine Information hinaus auch darin besteht, Situationen gemeinsam zu beurteilen, Entscheidungen gemeinsam zu bewerten oder Befürchtungen und Sorgen zu thematisieren, dann braucht es zwar Moderations- und Coachingkompetenz auf Seiten der Leitung, doch die Motivation des Teams und die Bindung der Mitarbeitenden an den Pflegedienst steigt.
  • Mit Pflegebedürftigen und deren Angehörige, auch mit reinen Geldleistungsempfänger*innen und bei denen, wo die Tagespflege oder Demenzgruppe geschlossen wurden, wird proaktiv telefonisch oder per Videokonferenz Kontakt gehalten.
  • Die Dienste und Touren werden gemeinsam so gestaltet, dass eine Erholungszeit von mehreren Tagen am Stück möglich ist und Kolleg*innen mit Mehrfachbelastung berücksichtigt werden.
  • Mitarbeitende werden nicht in Kurzarbeit geschickt, sondern mit Projekten betraut, zum Beispiel der Recherche und Beschaffung von Schutz- und Desinfektionsmaterial.
  • Der Pandemieplan und die Umsetzung dessen, wird gemeinsam besprochen, verändert und verabschiedet. Der Pandemieplan des Pflegedienstes proVida ist ein gelungenes Beispiel für das “Gemeinsame Fahren auf Sicht in einer Krise”

Um Gutes auch nach der Krise, wann immer das sein wird, dauerhaft in den Alltag zu integrieren, eigenen sich diese drei Fragen:

  1. Was machen wir derzeit konkret neu / anders / nicht mehr / als vor der Krise?
  2. Woran erkennen wir, ob das, was wir anders machen auch dauerhaft nützlich für unseren Pflegedienst ist?
  3. Wie stellen wir sicher, dass die dauerhafte Übernahme von nützlichen “Krisen-Praktiken” in den “Normalmodus” gelingen wird?

Gemeinsam mit ihnen neue Strukturen zu entdecken und zu teilen, darauf freut sich

Claudia Henrichs

Ps: Und wenn es dann auch noch gelingt, gemeinsam externe Strukturen zu verändern, dann wird auch die ambulante Pflege einen wahrnehmbaren Platz in der öffentlichen Diskussion einnehmen.